Explosion in Ratingen: „Bis in die Tiefen meines Polizeiherzens erschüttert“
Bei der Explosion in Ratingen waren Dutzende Einsatzkräfte verletzt worden, drei Menschen sind weiter in Lebensgefahr. Polizei und Feuerwehr haben nun klare Forderungen.
Ratingen/Düsseldorf – Nach der Explosion in Ratingen, bei der zahlreiche Einsatzkräfte verletzt wurden, hat sich heute der Innenausschuss des Landtages in Nordrhein-Westfalen näher mit dem Einsatz beschäftigt. Die SPD-Fraktion hatte die Sondersitzung einberufen und von der CDU-geführten Landesregierung von Ministerpräsident Hendrik Wüst gefordert, neue Erkenntnisse im Zusammenhang mit dem Angriff auf Einsatzkräfte in Ratingen vorzulegen.
Tatverdächtiger aus Ratingen soll Einsatzkräfte mit Benzin übergossen haben
Michael Mertens, der Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), war beim Ausschuss in Düsseldorf dabei. „Das nochmal in allen Einzelheiten zu hören – das hat mich bis in die Tiefen meines Polizeiherzens erschüttert“, sagt er auf Nachfrage gegenüber 24RHEIN. „Ich weiß nicht, an wie viele Türen ich selbst schon genauso geklopft habe – exakt wie die jetzt betroffenen Kollegen.“
Wie Innenminister Herbert Reul (CDU) nach Abschluss der Sitzung gegenüber Pressvertreterinnen und Pressevertretern mitteilte, soll der mutmaßliche Täter, ein 57-Jähriger aus Ratingen, die Einsatzkräfte beim Betreten der Wohnung gezielt mit Benzin übergossen und dann angezündet haben.
Drei Einsatzkräfte nach Explosion in Ratingen in Lebensgefahr
Bei der anschließenden Explosion sind, laut derzeitigen Angaben, 35 Menschen verletzt worden. Eine Polizistin, ein Rettungssanitäter sowie ein Mann der Feuerwehr schwebten noch in Lebensgefahr und befinden sich im künstlichen Koma. Fünf weitere Personen müssten ebenfalls noch im Krankenhaus versorgt werden, heißt es.

„Wir erleben viele körperliche Attacken im Einsatz und das trainieren wir auch. Aber eine solche Grausamkeit und Skrupellosigkeit habe ich noch nie erlebt“, sagt Mertens, der seit 1979 im Polizeidienst tätig ist. Er glaubt, dass dieser Einsatz alle Beteiligten noch sehr lange begleiten wird.
Polizeigewerkschaft: „Wir werden weiterhin unsere Arbeit machen“
Derzeit würde unter Polizistinnen und Polizisten über nichts anderes gesprochen. Trotzdem sei Angst ein schlechter Berater, so Mertens und verspricht: „Wir werden weiterhin unsere Arbeit machen.“ Und doch gebe es Betroffene, die direkt nach dem Einsatz aus dem Dienst genommen werden mussten, sagt Mertens. „Andere wollen aber auch arbeiten, da ihnen der Alltag hilft, den Einsatz zu verarbeiten.“
Jetzt finde er es wichtig, zu handeln: „Die betroffenen Kollegen brauchen jetzt die bestmögliche Betreuung, sowohl medizinisch als auch psychologisch.“ Zwar gebe es schon eine Polizeiseelsorge, aber es könnte noch mehr getan werden. Denn diese Einsätze machten etwas mit den Polizisten. „Wir brauchen Beratungen, Betreuungen und Profis, die sich um uns nach Einsätzen kümmern“, sagt Mertens.
Feuerwehrgewerkschaft: Mehr Schulungen und Fortbildungen für Feuerwehrmenschen
Tobias Thiele, Sprecher der Deutschen Feuerwehrgewerkschaft, hält Fort- und Weiterbildungen für ein wichtiges Instrument. „Wir brauchen intensive Schulungen zur Vorbereitung auf die vielen, verschiedenen Einsatzsituationen, denen unsere Einsatzkräfte in alltäglichen, aber auch nicht alltäglichen Situationen, begegnen.“ Dafür müsse jedoch Zeit in den Dienstschichten zur Verfügung stehen. „Regelmäßige Aus- und Fortbildung ist das ‚A und O‘ – und damit unsere Lebensversicherung.“

Was die Schutzkleidung und technische Ausrüstung von Feuerwehrkräften angeht, seien die Feuerwehren gut ausgestattet und die Einsatzkräfte gut geschützt, glaubt Thiele. Zudem gebe es regelmäßige Check-ups. „Bezugnehmend auf die unfassbare, mutmaßlich vorsätzliche Tat in Ratingen gibt es jedoch Grenzen.“
Auch Mertens, der selbst 17 Jahre lang im Wachdienst gearbeitet hat, sagt: Die Gefahr, die von dem 57-jährigen mutmaßlichen Täter ausging, hätte niemand kommen sehen. Herbert Reul unterstrich dies ebenfalls. „Das war ein ganz normaler Einsatz, wo eine solche Gefahr gar nicht zu erwarten war“, zitiert ihn der WDR.
Was über die Explosion am 11. Mai in Ratingen bekannt ist
Am 11. Mai wurde die Polizei von einem Hausmeister in den 10. Stock eines Hochhauses in Ratingen gerufen: Aus einer Wohnung habe man Verwesungsgeruch entnommen, ein Briefkasten quoll über. Die Anwohnerin galt als vermisst.
Die Polizei kam mit Feuerwehr- und Rettungskräften. Als die Einsatzkräfte versuchten, die Wohnung zu öffnen, stellten sie fest, dass diese verbarrikadiert war. Als die Feuerwehr die Wohnungstür aufbracht, soll ein Mann die Einsatzkräfte mit Benzin übergossen und angezündet haben. Danach kam es zu einer Explosion.
35 Menschen wurden verletzt, drei schweben derzeit noch in Lebensgefahr, fünf weitere müssen noch immer im Krankenhaus behandelt werden.
In der Wohnung wurde eine zum Teil bereits skelettierte Leiche in einem Rollstuhl gefunden. Dabei handelt es sich wahrscheinlich um die Mutter der mutmaßlichen Tatverdächtigen, einem 57-jährigen Mann aus Ratingen. Sie soll schon mehrere Wochen tot gewesen sein. Laut aktuellem Kenntnisstand starb sie eines natürlichen Todes.
Der Mann gehört mutmaßlich der Prepper-Szene an. Außerdem wurden bei ihm Hinweise darauf gefunden, dass er Verschwörungsmythen anhängig und Corona-Leugner sowie Impfgegner ist.
Vier Stunden nach Einsatzbeginn konnte der Mann, der leichte Verbrennungen erlitt, festgenommen werden. Ihm wird neunfacher versuchter Mord zur Last gelegt. Er sitzt in Untersuchungshaft.
Explosion in Ratingen: Sind Einsatzkräfte ausreichend geschützt?
Reul gab derweil weitere Informationen über den Einsatz bekannt. Wie der WDR berichtet, sei die Polizei demnach vom Hausmeister des Gebäudes benachrichtigt worden, da eine Bewohnerin als vermisst galt. Beim Versuch, in die Wohnung zu gelangen, sei dann festgestellt worden, dass die Tür verbarrikadiert sei. Mithilfe der Feuerwehr habe man sich Zutritt verschafft, so Reul.
Eine Polizistin sei dann von dem Mann mit einer Flüssigkeit, wahrscheinlich Benzin, überschüttet worden. Der Mann habe eine Flamme verursacht und die Einsatzkräfte in Brand gesetzt.
Mertens will aktuell nicht darüber spekulieren, ob die Polizisten, Feuerwehrmenschen und Rettungssanitäterinnen für solche Einsätze und diese Eskalationen ausreichend geschützt sind. „Erstmal sollten wir an die denken, die um ihr Leben kämpfen und beten, dass sie überleben.“
Tobias Thiele spricht auf Nachfrage von vereinzelten Einsatzsituationen, in denen sich Einsatzkräfte nicht sicher fühlten. „Hier sind die Dienststellen gefragt, entsprechende Konzepte zum Schutz der Kolleginnen und Kollegen zu erarbeiten, die in solchen Situationen jederzeit Sicherheit und Hilfe bringen können.“
NRW-Landespolitik will künftig mehr in Betreuungsangebote für Einsatzkräfte investieren
Von dem Zusammentreffen des Innenausschusses, das Michael Mertens zuvor noch als „parteipolitische Ränkespiele“ kritisiert hatte, zog er nun ein positives Fazit. „Alle demokratischen Parteien sind sehr angenehm mit dem Sachverhalt umgegangen.“
Der Eindruck, dass die SPD den Ausschuss nur einberufen hatte, um dem Innenminister Fehler vorzuwerfen, habe sich nicht bestätigt. Stattdessen sei mehrfach davon gesprochen worden, das Beratungs- und Betreuungsangebot für Einsatzkräfte künftig auszuweiten.
Tatmotiv in Ratingen weiterhin unklar
Derweil seien die Ermittlungen gegen den 57-jährigen Tatverdächtigen, laut Herbert Reul, noch in vollem Gange. Vieles sei immer noch unklar. Auch könnte nichts zu dem Motiv des Mannes gesagt werden, der die Einsatzkräfte gezielt angegriffen haben soll. So zitiert der WDR den Innenminister. In der Wohnung des 57-Jährigen wurde allerdings Material gefunden, das ihn als Angehörigen der Prepper-Szene ausweist. Außerdem soll er zu Verschwörungsmythen neigen.
Der Verdächtige war zuvor mehrfach durch Körperverletzungen aufgefallen. Gegen ihn hatte ein bestandener Haftbefehl wegen einer geringfügigen, nicht bezahlten Geldstrafe vorgelegt. Ein Polizist hatte daher bereits wenige Tage vor dem 11. Mai vergeblich an der Tür des Mannes geklingelt. Nun ist gegen den 57-Jährigen ein Haftbefehl wegen versuchten Mordes in neun Fällen erlassen worden. Er sitzt in Untersuchungshaft.