1. 24RHEIN
  2. Rheinland & NRW

Dorf existiert zweimal: Familie bekommt jeden Tag Pakete von anderen Leuten

Erstellt:

Von: Peter Sieben

Wider Erwarten wurde das Dorf Kuckum nicht abgerissen. Die meisten Einwohner sind aber ins neue Kuckum umgezogen. Das führt zu Post-Chaos. Doch das ist nicht das größte Problem.

Erkelenz – Es klingelt. Und Marita Dresen ist genervt. „Amazon oder Post“, sagt sie. Täglich bekommen die Dresens Pakete und Briefe, die eigentlich für eine andere Familie bestimmt sind. Die hat zwar dieselbe Adresse hat wie die Dresens, wohnt aber ganz woanders. Der Grund: Den Ort Kuckum gibt es zweimal. Inklusive sämtlicher Straßennamen, als hätte jemand Kuckum kopiert.

Kuckum bei Lützerath: RWE wollte das Braunkohle-Dorf abreißen

Marita Dresen und David Dresen aus Kuckum
Marita und David Dresen haben lange für den Erhalt ihres Dorfes Kuckum, das so wie Lützerath eigentlich abgerissen werden sollte, gekämpft. Doch zur Ruhe kommt die Familie noch nicht. © Peter Sieben

Das Original dürfte eigentlich bald nicht mehr existieren. Kuckum ist eines von mehreren Dörfern im Rheinischen Braunkohlerevier, die abgerissen werden sollten, damit der Energiekonzern den Tagebau Garzweiler ausweiten und die darunterliegende Braunkohle abbaggern kann. So wie es wohl bald im benachbarten Lützerath passiert, das derzeit von Klimaaktivisten besetzt wird. „Ich habe mein halbes Leben mit dem Wissen gelebt, dass die unsere Heimat irgendwann abreißen“, sagt Marita Dresen. Und ihr Sohn David kennt es gar nicht anders. „Für mich war das Gefühl da: Das ist nicht für ewig“, erzählt der 31-Jährige.

Dass Kuckum jetzt doch noch steht, ist auch das Verdienst der Dresens. David, seine beiden Geschwister und Mutter Marita kämpfen seit Jahren vehement mit der Initiative „Alle Dörfer bleiben“ gegen den Abriss. Zuletzt mit Erfolg: Kuckum bleibt. Zumindest vorerst. „Es gab ein großes Fest, aber so richtig realisiert hat man das noch nicht“, sagt David Dresen. Vorerst besteht nur ein „Agreement“ zwischen Land und RWE, wie er sagt. „Wenn es mit der Energiewende nicht klappt, kann es sein, dass Garzweiler doch ausgebaut wird“.

Braunkohledorf wird immer leerer: „Viele haben gesagt, ihr seid bekloppt, wenn ihr bleibt“

So richtig zur Ruhe kämen sie trotz des Erfolgs nicht, sagt der 31-Jährige. Denn das Dorf, das Kuckum einst war, wird es nie wieder geben. Als sich abzeichnete, dass Kuckum so wie Lützerath abgerissen werden soll, haben viele Bewohner ihre Häuser verkauft. Von einst knapp 500 Einwohnern sind aktuell etwa 40 übrig. „Viele haben gesagt: Ihr seid bekloppt, wenn ihr hier bleibt“, sagt Marita Dresen.

Tagebau Garzweiler: Warum ganze Dörfer abgerissen werden

1983 entstand der Braunkohlentagebau Garzweiler als Zusammenschluss der schon existierenden Abbaufelder Frimmersdorf-Süd und Frimmersdorf-West. Der Energiekonzern RWE baut hier pro Jahr 35–40 Millionen Tonne Braunkohle ab.

Die Braunkohle, die für die Energiegewinnung in Kohlekraftwerken verwendet wird, liegt manchmal auch unter Ortschaften. Wenn es zur Sicherung der Energieversorgung notwendig ist, müssen die Ortschaften weichen. Die Einwohner werden dann umgesiedelt, die Dörfer abgerissen.

Die fünf Ortschaften Keyenberg, Kuckum, Unterwestrich, Oberwestrich und Berverath am Tagebau Garzweiler sollten auch zerstört werden. Doch im Koalitionsvertrag der schwarz-grünen NRW-Landesregierung wurde beschlossen, dass die Orte stehen bleiben.

Lützerath hingegen wird wohl 2023 geräumt und abgerissen. In vielen Dörfern nahe Lützerath findet man jetzt gelbe Kreuze an Hauswänden als Symbol des Protests gegen den Braunkohletagebau.

Doch sie blieben. Ihre Familie lebt seit Generationen hier auf einem kleinen Hof, ist tief mit der Geschichte des alten Niederrhein-Dorfs verwurzelt. Jetzt stehen viele Häuser leer, auch im benachbarten Keyenberg. Das lockt nachts Einbrecher. „Da hört man es Hämmern und Klopfen und weiß: Die holen wieder Kupferrohre aus den Wänden“, erzählt Marita Dresen. Dachrinnen seien auch so ein Klassiker, sagt Sohn David.

Die meisten Bewohner sind in die neue RWE-Siedlung gezogen

Und dann ist da jetzt eben noch die Sache mit der Post. Knapp acht Kilometer von Kuckum entfernt ist längst eine neue Siedlung entstanden, denn Kuckum sollte ja abgerissen werden. Verwirrenderweise heißt die neue Siedlung auch Kuckum. Mit einem „neu“ in Klammern dahinter. Viele der alten Straßennamen und Ortsbezeichnungen hat man mitgenommen – keiner hatte damit gerechnet, dass es die Originalstraßen noch lange geben würde. So gibt es zum Beispiel die Straße „Zur Niersquelle“ in Kuckum (neu). „Dabei ist da gar keine Quelle, die ist hier. Das ist doch bescheuert“, schimpft Marita Dresen.

Auch ihre Adresse gibt es zweimal – und täglich kommt die Post von der anderen Familie aus Kuckum (neu) bei Dresens an. „Es wäre fast zum Lachen“, sagt Marita Dresen und ein großes „Aber“ schwingt schon mit: Denn die Familie muss sich jedes Mal darum kümmern, dass die Pakete und Briefe zur richtigen Adresse kommen. Oft fahren sie die acht Kilometer ins neue Kuckum und bringen die Sachen persönlich vorbei. Und ein bisschen kommt dann jedes Mal die schmerzliche Erinnerung, dass die Heimat, so wie sie mal war, verloren ist.

Aktivisten aus Lützerath kommen, um sich aufzuwärmen

Doch die Dresens haben Hoffnung. Mit den Klimaaktivisten im Nachbardorf, die die Lützerath-Räumung verhindern wollen, stehe man in einem engen Austausch. Manchmal kämen Leute aus dem Camp vorbei, um sich aufzuwärmen, mal kurz zu duschen oder Wäsche zu waschen. „Ich bin ja irgendwo auch Aktivistin, weil ich mich aktiv einsetze“, sagt Marita Dresen. Sie wünscht sich, dass auch Lützerath stehen bleiben kann. Dafür will sie mitkämpfen. Und für Kuckum hat David Dresen auch schon Pläne.

Ein Kulturzentrum könnte in der inzwischen entweihten Kirche entstehen und vielleicht gibt es mal Sozialprojekte wie betreutes Wohnen in den alten Höfen, erzählt er und grüßt freundlich ein junges Pärchen, das am Haus vorbeijoggt. Das sind die ukrainischen Nachbarn, einige Geflüchtete sind jetzt in den leerstehenden Häusern untergekommen. Es passiert viel Neues im alten Kuckum. (pen) Fair und unabhängig informiert, was in Deutschland und NRW passiert – hier unseren kostenlosen 24RHEIN-Newsletter abonnieren.

Auch interessant