Warum Aktivisten Lützerath so vehement verteidigen
Aktivisten verteidigen verbissen den Ort Lützerath. Für sie ist das verlassene Dorf ein Zuhause geworden. Und der Ort beim Tagebau Garzweiler hat noch eine weitere besondere Bedeutung.
Erkelenz – Ein schrottreifer VW Golf steht genau auf der Grenze. Das Auto ist mit Graffiti übersät und die Straße, auf der es steht, trennt zwei Welten: Rechts geht es steil bergab, hunderte Meter tief. Dort, im Tagebau Garzweiler graben gigantische Schaufelradbagger Braunkohle aus der Erde. Links stehen Barrikaden und Bauzäune mit gelben Holzkreuzen. Dahinter liegen die Überreste eines Dorfs: Lützerath. Und die Bagger graben sich immer näher an die Grenze heran.
Lützerath ist auch ein Symbol: David gegen Goliath
Jemand hat eine Tasse Kaffee und ein angebissenes Brot auf dem Dach des bunten Schrottautos vergessen, wahrscheinlich war es jemand aus dem Dorf. Rund 150 Aktivinnen und Aktivisten leben in Lützerath, nachdem die eigentlichen Bewohner alle weggezogen sind. Der Energieriese RWE will den Weiler abreißen lassen, um an die Kohlevorkommen darunter zu gelangen. Die Lützerath-Räumung steht bevor. 150 Aktivisten im Besetzer-Camp wollen das mit allen Mitteln verhindern. David gegen Goliath.
Ein Stück die Straße hoch haben sie eine Mahnwache eingerichtet, unter Zeltplanen gibt‘s Kaffee. Auf Plastikstühlen sitzen die Dauercamper am Abgrund und blicken in die monströse Tagebau-Grube. Und immer wieder kommen auch Leute aus den umliegenden Dörfern und Städten mit dem Auto vorbei, steigen kurz aus, schauen sich verwundert um in dieser Szenerie, die einem Endzeitfilm entnommen sein könnte.
RWE hat Lützerath vom Stromnetz getrennt
Jetzt ist der Strom im Camp weg. RWE hat den Ort vom Netz getrennt und die Heizöfen der rund 150 Aktivistinnen und Aktivisten, die Lützerath besetzen, funktionieren nicht mehr. Die Temperaturen rutschen vor allem nachts in den Keller. In den Baumhäusern, in denen viele hier wohnen, ist es bitterkalt. Aufgeben will Aktivistin Ronni Zepplin trotzdem nicht. Und das gelte auch für die anderen.
Lützerath-Räumung: Holz sägen fürs Lagerfeuer im Camp
Sie zersägt jetzt herumliegendes Holz, zum Feuermachen, erzählt die Sprecherin der Initiative „Lützerath lebt“. Immerhin: Inzwischen haben sie zwei Photovoltaikanlagen im Camp – ein Teil des Geldes dafür kam von der Umweltschutzorganisation Greenpeace und vom „Wetten dass?“-Sieger Marten Reiß. Der war vor einigen Wochen Wettkönig in der ZDF-Show geworden und hatte angekündigt, sein Preisgeld von 50.000 Euro auch in die Erhaltung von Lützerath zu investieren.

Ihre Handys können die Besetzer jetzt wieder laden, Licht gibt‘s auch, für die Heizöfen reicht’s aber noch nicht. Baumhäuser bauen, Solarpanele ausrichten, Stromleitungen verlegen – das passiert alles im Do-it-yourself-Verfahren. „Es gibt ein paar Leute, die sich das im Lauf der Zeit selbst angeeignet haben“, erzählt Zepplin.
Zumindest vorübergehend haben die Männer und Frauen ihr Leben diesem einen Ort verschrieben, manche wohnen schon zwei Jahre hier. Viel investierte Lebenszeit – und dabei kommen viele gar nicht direkt aus der Gegend. Warum also? „Lützerath ist ein Symbol und ein Modell“, sagt Ronni Zepplin. „Die Lebensweise unserer Gesellschaft und unsere Energienutzung hat zu einer Krise geführt, die fundamental alle Menschen, ja eigentlich alle Lebewesen gefährdet. Da die Politik nicht handelt, müssen wir das selbst in die Hand nehmen.“
Kohleausstieg kommt, aber Lützerath soll dennoch zerstört werden
Damit meint sie wohl auch die schwarz-grüne NRW-Landesregierung und vor allem das grün geführte Wirtschaftsministerium. Zwar kommt der Kohleausstieg bis 2030, und das Land NRW, der Bund und RWE haben sich darauf verständigt, dass fünf Dörfer nahe dem Tagebau Garzweiler II entgegen dem ursprünglichen Braunkohle-Plan nun doch nicht abgerissen werden. Lützerath aber soll zerstört werden.
„Das zeigt, dass sie und andere Politikerinnen und Politiker der Situation nicht angemessen handeln, sondern von wirtschaftlichen Erwägungen abhängig sind“, findet Ronni Zepplin. Tatsächlich hat eine Studie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mehrerer Forschungsinstitute ergeben, dass die Kohle unter Lützerath nicht notwendig ist, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Dennoch insistiert NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur: Wegen der Energiekrise sei der Abriss alternativlos und ein Erhalt von Lützerath aus energiewirtschaftlicher und Tagebau-planerischer Sicht nicht möglich.
Es geht den Aktivisten ums System
„Wir wollen im Modell zeigen, dass ein Leben auch ohne Energie aus Kohle oder Atomstrom möglich ist“, sagt Ronni Zepplin. Tatsächlich geht es um noch mehr, es geht ums System: „Wir haben genug, es müsste keinen Mangel geben. Das kapitalistische System verhindert aber, dass wir die Ressourcen so einsetzen, dass es nachhaltig ist“, sagt Zepplin. Die Gesellschaft müsse sich grundlegend ändern: „Ich denke, dass sich das umsetzen lässt, wenn nur genug Leute mitmachen.“ Deshalb sei es wichtig, dass Lützerath stehen bleibt.
Lützerath ist außerdem auch der letzte Kristallisationspunkt im Kampf der Aktivisten gegen Kohle: Der Hambacher Forst ist gerettet, fünf Dörfer um Garzweiler II bleiben erhalten – Lützerath wird zum Ort des Showdowns.
Polizei sondiert Lage in Lützerath
Zum Jahresanfang 2023 startet die Räumung von Lützerath, erste Barrikaden hatte die Polizei bereits im Vorfeld geräumt, am 11. Januar rückten Einsatzkräfte ins Dorf vor. Es gab schon davor immer wieder Handgreiflichkeiten, es flogen Steine, Menschen wurden verletzt. Die Polizei war schon im Dezember vor Ort, um die Lage zu sondieren. Man rechne mit keinen Eskalationen wie seinerzeit bei der Besetzung des Hambacher Forsts, hieß es damals noch bei der Aachener Polizei – dennoch kamen die Beamten in voller Montur mit Helm und Schild. Die Lützerath-Besetzer sprachen von einer „Machtdemonstration“ und werfen den Beamten vor, zu eskalieren. Die Polizei wiederum macht klar: Man sichere nur die Arbeiten von RWE im Vorfeld des Braunkohletagebaus ab. Die Fronten verhärten sich.
Tagebau Garzweiler: Warum ganze Dörfer abgerissen werden
1983 entstand der Braunkohlentagebau Garzweiler als Zusammenschluss der schon existierenden Abbaufelder Frimmersdorf-Süd und Frimmersdorf-West. Der Energiekonzern RWE baut hier pro Jahr 35–40 Millionen Tonne Braunkohle ab.
Die Braunkohle, die für die Energiegewinnung in Kohlekraftwerken verwendet wird, liegt manchmal auch unter Ortschaften. Wenn es zur Sicherung der Energieversorgung notwendig ist, müssen die Ortschaften weichen. Die Einwohner werden dann umgesiedelt, die Dörfer abgerissen.
Die fünf Ortschaften Keyenberg, Kuckum, Unterwestrich, Oberwestrich und Berverath am Tagebau Garzweiler sollten auch zerstört werden. Doch im Zuge des Kohleausstiegs 2030 haben sich NRW, Bund und RWE darauf verständigt, dass die Orte stehen bleiben.
Lützerath hingegen soll 2023 abgerissen werden, so sieht es die Einigung vor.
Provokation von RWE? Abends brennt es im Tagebau
Im Camp verstand man das als Provokation. So wie auch das Abtrennen vom Strom. Noch am selben Abend brannte ein Trafo auf dem Tagebau-Gelände, Unbekannte hatten Feuer gelegt. Wenige Tage später dann erneut ein Brand, diesmal an einem Stromkasten. Eine Retourkutsche? Davon wisse man nichts, heißt es aus dem Camp. Die letzten Demos und Proteste am Tagebau, zu denen auch die Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Tagebau aufgerufen hatten, verliefen überaus friedlich. Doch: „Wir werden Lützerath mit unseren Körpern verteidigen“, sagt Ronni Zepplin.
„Bulle? Verpiss dich“, steht am Ortsausgangsschild von Lützerath
Deutlich drastischer klingen die Formulierungen des Aktionsbündnisses „Ende Gelände“, die mit markigen Worten massiven Widerstand ankündigen: „Wir werden um Lützerath kämpfen, wie wir den Hambacher Wald verteidigt haben. Wer Lützerath angreift, wird einen hohen Preis zahlen“, heißt es von dort. Und im Camp prangt das obligatorische „ACAB“ an vielen Wänden, „Kill Cops“ steht an einer Mauer des ehemaligen Duisserner Hofes, wo bis 2022 der letzte Landwirt von Lützerath gelebt hat. Und auf das Ortsausgangsschild hat jemand die Worte „Bulle? Verpiss dich!“ mit Filzstift geschrieben.
Polizei Aachen: „Das nehmen wir ernst“
„Das nehmen wir ernst. Da haben wir in den vergangenen Jahren auch entsprechende Erfahrungen gemacht, wenn die Aktivisten in Maleranzügen in den Tagebau eingedrungen sind“, sagt Andreas Müller von der Aachener Polizei. Es sei grundsätzlich die Aufgabe der Polizei, den friedlichen Protest zu schützen. Aber: „Der Begriff des zivilen Ungehorsams bringt das Motiv der politischen Unzufriedenheit zum Ausdruck. In der Vergangenheit hat man damit jedoch auch versucht, Straftaten zu legitimieren. Auch Gewaltstraftaten.“
Lützerath-Verteidigung: Es geht auch um Heimat
Derweil kommt Widerstand auch noch von einer weiteren Gruppe. Die Initiative „Alle Dörfer bleiben“ hat jahrelang für den Erhalt der fünf Dörfer gekämpft, die anders als Lützerath nun doch nicht abgerissen werden. Viele von ihnen wohnen hier, ihre Familien sind tief mit der Region verwurzelt. So wie die Familie von David Dresen, die seit Generationen im kleinen Ort Kuckum wohnt. Auch er will protestieren, wenn Lützerath im Januar 2023 geräumt werden soll, sagt der 31-Jährige. Und zahlreiche andere Menschen aus den umliegenden Dörfern ebenfalls. Für viele von ihnen geht es um den Erhalt ihrer Heimat.
Und das gilt auch für die Aktivisten im Camp von Lützerath. Die Aktivisten leben seit Jahren in dem Ort, manche zuerst noch zur Untermiete bei den letzten verbliebenen alteingesessenen Lützerathern. Sie haben Baumhäuser gebaut und mehrere Winter in dem Dorf überstanden: Für sie ist Lützerath auch ein Zuhause geworden.
RWE darf die Fläche in Anspruch nehmen
Das Ende von Lützerath rückt unterdessen immer näher: Die zuständige Bezirksregierung Arnsberg hat den Hauptbetriebsplan für den Braunkohletagebau Garzweiler II bis Ende 2025 zugelassen. Damit ist offiziell, was ohnehin beschlossene Sache war: RWE darf die Fläche von Lützerath in Anspruch nehmen, und die Kohle darunter fördern.
Zuletzt hatten Klimaaktivisten in mehreren deutschen Städten für den Erhalt von Lützerath demonstriert. In Köln etwa klebten sich Aktivisten von „Ende Gelände“ jüngst auf eine Straße am Heumarkt und in Düsseldorf protestieren mehrere Dutzend „Fridays for Future“-Anhänger vor dem Wirtschaftsministerium. Am Sonntag will Klimaaktivistin Luisa Neubauer zu einem „Dorfspaziergang“ nach Lützerath kommen. Luisa Neubauer hatte im Vorfeld zum Protest gegen die Räumung von Lützerath aufgerufen, berichtet Buzzfeed.News. (pen) Fair und unabhängig informiert, was in Deutschland und NRW passiert – hier unseren kostenlosen 24RHEIN-Newsletter abonnieren.