Manfred Güllner: „Glauben an die Handlungsfähigkeit des Staates drastisch eingebrochen“

Wie steht es in der Krise um die Stimmung der Deutschen? Darüber hat unser Gastautor Michael Hirz mit dem Meinungsforscher Manfred Güllner von Forsa gesprochen
Köln – Mit dem 4. September beginnt eine neue Zeitrechnung: Lange, allzu lange haben sich die Menschen geduckt und gefügt. Doch dann wird aus dem stillen Widerstand offener Protest. Das Maß an Bevormundung durch den Staat, das Misstrauen gegenüber der Regierung, die sich verschlechternde Versorgungslage – die Demonstration in der Leipziger Innenstadt markiert den Anfang vom Ende, das Staatswesen kollabiert. Das geschah 1989, nur kurze Zeit später verdampfte die DDR und wurde Geschichte.
2022: Wieder gehen Menschen auf die Straße – wie steht es um die Stimmung im Land?
In diesem September gehen Bürgerinnen und Bürger wieder montags auf die Straße in Leipzig, wieder treibt sie Unmut über die Verhältnisse, Wut auf die Regierenden in Berlin. Die Sanktionen gegen Russland, die drastisch steigenden Preise für die Lebenshaltung, die galoppierende Angst vor einer Versorgungskrise, vor unbezahlbaren Energiekosten werden zu einem explosiven Mix. Schon warnt der Verfassungsschutz vor einem heißen Herbst, in dem vor allem rechte wie linke Extremisten versuchen werden, den Staat mit gewaltsamen Protesten zu delegitimieren. Na sicher, so wie Bonn nicht Weimar war, ist die Bundesrepublik nicht die DDR. Aber wie steht es um die Stimmung im Land, wie sieht die Bevölkerung ihre Regierung in der sich ausweitenden Krise?
Forsa-Chef Güllner: „Glauben an die Handlungsfähigkeit des Staates drastisch eingebrochen“
Das habe ich den Forsa-Chef Prof. Manfred Güllner gefragt, der der Gesellschaft seit Jahrzehnten den Puls fühlt. Er sieht, durchaus beunruhigend, den „Glauben an die Handlungsfähigkeit des Staates drastisch eingebrochen“. Hier besteht für den Meinungsforscher auch ein großer Unterschied zur Corona-Phase, wo dem Staat noch mit deutlicher Mehrheit zugetraut wurde, die Entwicklung in den Griff zu bekommen. Ein weiteres Phänomen kann auch nicht beruhigen, dass nämlich radikale Parteien nicht von dem Unmut profitieren: „Dieser Unmut drückt sich in Nichtwähler-Zahlen aus“ – also einer Abwendung vom System der parlamentarischen Demokratie. Als Beleg zitiert Güllner die jüngste Landtagswahl in NRW, an der sich nur 55 Prozent der Wahlberechtigten beteiligt haben.
Energiekrise: Deutsche sehen „keine schlüssige Strategie“
Der Ampelkoalition scheint diese Stimmung durchaus bewusst zu sein. Ein Ergebnis ist das dritte sogenannte Entlastungspaket, das die Folgen der Krise abmildern soll. Viel Geld macht der Finanzminister locker, wohl auch, um drohenden „Volksaufständen“ (Annalena Baerbock) entgegenzuwirken. Doch zumindest derzeit scheint die Medizin noch ohne Wirkung zu bleiben. Forsa-Gründer Güllner: „Die Leute haben nicht das Gefühl, dass die Maßnahmen aufeinander abgestimmt sind“. Selbst beim bisherigen Umfrage-Liebling Robert Habeck scheint die Zuneigung brüchig zu werden, konstatiert der Forsa-Demoskop, bei ihm sähen die Befragten mehrheitlich „keine schlüssige Strategie“. Das war noch vor Habecks irritierendem Talkshow-Auftritt, in dem er Insolvenzen und Betriebsschließungen durcheinanderbrachte.
► Professor Manfred Güllner, geboren 1941 in Remscheid, ist Gründer und Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Forsa. Er gründete das Unternehmen 1984, zuvor war er u.a. Direktor des Statistischen Amts in Köln.
► 24RHEIN-Gastautor Michael Hirz vom Kölner Presseclub war bis vor kurzem Programm-Geschäftsführer des Politik-Senders Phoenix und hat u. a. den „Internationalen Frühschoppen“ moderiert. Jetzt ist Michael Hirz freier Journalist, Kommunikationsberater und sitzt im Vorstand des Kölner Presseclub. Dieser Beitrag stammt aus dem Presseclub-Newsletter, den Sie hier abonnieren können.
Ausmaß der Krise wird sich erst im Herbst zeigen
Wirklich zuversichtlich vermag dieser Blick auf die Seelenlage der Nation also nicht zu stimmen, vor allem angesichts der Tatsache, dass das Ausmaß der Krise sich erst zeigen wird, wenn die Preise für Gas und Strom im Herbst weiter steigen, Inflation und Wirtschaftsentwicklung ihre Wirkung voll entfalten. Die ohnehin strapazierte Kassenlage begrenzt zusätzlich die lange praktizierte Möglichkeit der Politik, sich die Ruhe im Land durch finanzielle Wohltaten zu erkaufen, wie das in der Finanz- und der Coronakrise noch funktioniert hat. Für die Regierung Olaf Scholz gilt ganz offensichtlich die zeitlose Fußballer-Weisheit: Erst hatte sie kein Glück, dann kam noch Pech dazu. Denn nach den Zinsentscheidungen der amerikanischen Fed und der EZB hat Geld plötzlich wieder einen Preis, also werden aufgenommene Kredite teurer.
Energie-Wirtschaft: „Versorgung mit Gas mittlerweile beherrschbar“
Alles düster also? Nein, natürlich nicht. Trost habe ich mir geholt bei Dr. Marie-Luise Wolff, der Präsidentin des Verbandes der Energiewirtschaft. Als Kölnerin ist sie ohnehin zum Optimismus verpflichtet, aber sie ist auch täglich mit der Sicherung der Energieversorgung beschäftigt, sie ist Ansprechpartnerin der Politik in Berlin und Brüssel, sie kann die Situation und Akteure so genau wie nur wenige einschätzen. Und sie sagt: „Die Versorgung mit Gas ist mittlerweile beherrschbar.“ Auch der Politik mag sie kein schlechtes Zeugnis ausstellen. Sie habe mit enormer Geschwindigkeit und viel Geschick entschlossen gehandelt. Das Energiesparen bleibe „weiterhin ein ganz wichtiger Beitrag“ und ansonsten hoffe sie auf „Regen, damit die Wasserstraßen als Transportwege“ für Kohle wieder problemlos funktionieren. (mh/IDZRW)