Gas-Umlage nicht bezahlen? Was Aktivisten in Deutschland planen – und was Experten dazu sagen

Angesichts steigender Preise hoffen radikale Gruppen auf einen „heißen Herbst“ und „Wutwinter“ in Deutschland. Mit Protesten, Unruhen, Gewaltausschreitungen. Doch wie wahrscheinlich ist das?
Berlin/Köln – „Ich kenne Leute“, sagt Christoph Gärtner, „denen ist es völlig egal, wie hoch die Gas-Umlage ausfällt: Sie werden sie ohnehin nicht zahlen.“ Gärtner ist 72 Jahre alt, Diplom-Pädagoge und mittlerweile in Rente. Politisch engagiert er sich für die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLDP) in Solingen. Er ist überzeugt: Es wird einen Wutwinter geben.
Soziale Unruhen, Proteste, Widerstand – die Begriffe sind verschieden, doch sie meinen das gleiche: Es droht sozialer Sprengstoff. Was für viele bedrohlich klingt, ist für Christoph Gärtner eine Chance: „Wir müssen es schaffen, die Empörung richtig zu kanalisieren.“ Er ist fest davon überzeugt, dass „sehr viele Menschen auf die Straße gehen werden – spätestens, wenn die ersten Nachzahlungen anstehen.“
Es sind Aussagen wie die von Christoph Gärtner, die Politikern und Sicherheitsbehörden Sorgen bereiten. In Deutschland braut sich nach dem Sommer möglicherweise etwas zusammen. Linke und rechte Gruppen könnten versuchen, die Wut über explodierende Energiekosten, Inflation und wirtschaftliche Unsicherheit auszunutzen.
Gas-Umlage und Inflation: Außenministerin Baerbock warnte vor „Volksaufständen“
Wie groß die Angst vor Protesten, gar sozialen Unruhen ist, zeigen verschiedene Aussagen. So warnte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) vor „Volksaufständen“. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) schließt neue Demonstrationen nicht aus. Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan Kramer befürchtet gar, dass die bisherigen Coronaproteste im Vergleich wie ein „Kindergeburtstag“ aussehen werden. Was kommt da auf das Land zu?
„Es gibt natürlich legitime Gründe für Protest“, sagt Sebastian Hartmann, Innenexperte der SPD-Bundestagsfraktion, im Gespräch mit FR.de von IPPEN.MEDIA. Dazu zählt Hartmann Ärger über hohe Preise für Energie und Mobilität. Das seien Dinge, bei denen die Menschen schlicht keine Ausweichmöglichkeiten hätten. Gefährlich werde es, wenn extreme Gruppierungen versuchen, diese Demonstrationen zu unterwandern – und gezielt Ängste schüren.
„Rechte stellen mitunter richtige Fragen. Aber sie geben mit Hass und Hetze immer die falschen Antworten“, sagt der SPD-Politiker. Daher sei es so wichtig, Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen zu entlasten. Um radikalen Gruppen schon jetzt den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das Wort „Wutwinter“ will Hartmann sich nicht zu eigen machen. Doch auch er weiß: Wenn die Preise weiter steigen, könnten sich auch bislang unauffällige Bürger dem Protest anschließen.
„Heißer Herbst“ und „Wutwinter“: Welche Rolle spielt der Gaspreis?
Anlass zur Sorge gibt der Gaspreis. Innerhalb eines Jahres ist er nach Angaben des Statistischen Bundesamts um fast 164 Prozent gestiegen. Die Industrie ächzt, ausgefallene Lieferungen aus Russland bringen Energiekonzerne wie Uniper ins Wanken – weil sie Gas zu vielfach höheren Preisen auf dem Weltmarkt nachkaufen müssen. Um die gestiegenen Kosten möglichst fair zu verteilen, hat sich die Politik die Gas-Umlage ausgedacht. Sie beträgt ab dem 1. Oktober 2,419 Cent pro Kilowattstunde. Das klingt nicht viel. Hochgerechnet bedeutet das für eine vierköpfige Familie allerdings eine zusätzliche Belastung von rund 480 Euro. Und das in einer Zeit, in der der Höhepunkt der Inflation noch nicht erreicht sein dürfte. Um die Bürger immerhin etwas zu entlasten, will die Bundesregierung die Mehrwertsteuer auf Erdgas von bisher 19 auf 7 Prozent reduzieren.

Doch zur Wahrheit gehört: Am Ende wird es teurer. Dass die Deutschen mehr bezahlen sollen, sieht MLDP-Aktivist Gärtner überhaupt nicht ein. „Die fünf größten Energiekonzerne haben 62,5 Milliarden Dollar Gewinn im zweiten Quartal 2022 gemacht. Und jetzt wollen die noch mehr aus unseren Steuergeldern subventioniert werden?“ Während andere europäische Länder wie Frankreich oder Italien mit einer Übergewinnsteuer jene Unternehmen in die Verantwortung nehmen, die jahrelang von günstiger Energie profitiert haben, trifft es in Deutschland mal wieder jeden, sagt der Aktivist. Auch Gärtner sympathisiert mit der Idee, die Gasrechnungen selbstständig zu deckeln.
Eine Maßnahme, die in Großbritannien bereits breit diskutiert wird. Dort fordert die Initiative „Don’t Pay, UK“ die Bürger auf, gemeinschaftlich ihre Strom- und Gasrechnungen nicht mehr zu bezahlen. „Wenn viele mitmachen, wird man nicht alle verklagen können“, sagt Gärtner. Die Gas-Umlage könnte die Maßnahme sein, die den Zorn entfacht.
Kanzler Olaf Scholz wird in Brandenburg ausgepfiffen
Das musste am Mittwoch auch Bundeskanzler Olaf Scholz hautnah erleben. In Neuruppin, eine Stadt in der brandenburgischen Provinz, war der SPD-Politiker bei einem Auftritt wegen Pfeifkonzerten und Sprechchören („Lügner!“) kaum zu verstehen. Ist das erst der Anfang? Der Verfassungsschutz rechnet zwar nicht mit „gewalttätigen Massenprotesten“, räumt aber auch ein, dass die Größenordnung schwer prognostizierbar sei.
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Ein Problem, das Sebastian Haunss vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung bestens kennt. Er forscht vor allem zu Protesten und sozialen Konflikten. „Wir Sozialwissenschaftler haben das Problem, dass wir keine seriösen Vorhersagen abgeben können“, sagte er FR.de von IPPEN.MEDIA. Gibt es einen Wutwinter? Haunss ist skeptisch. Das hat mehrere Gründe. Es sind zwei Dinge, die für ihn eigentlich nicht zusammenpassen: Deutsche und Proteste. Zumindest, wenn es um eine soziale Frage geht. „Da gab es nur einmal eine Ausnahme, die Montagsdemonstrationen nach den Hartz-Reformen 2003.“
Proteste: In Frankreich gibt es die Gelbwesten – und in Deutschland?
In Frankreich etwa ist das anders. Bestes Beispiel: Die Gelbwesten, die nach einer von Präsident Emmanuel Macron angekündigten starken Besteuerung von Diesel 2018 massiv protestierten – Gewalt eingeschlossen. Dass das hierzulande nicht allzu wahrscheinlich ist, hängt laut Haunss auch damit zusammen, wer demonstriert. „An Demonstrationen beteiligen sich im Durchschnitt eher Menschen aus der Mittelschicht und mit höherem Bildungsniveau.“ Doch gerade die wird es nicht so hart treffen. Es sind die Menschen am unteren Rand der Gesellschaft. Ein Rand, der immer größer wird.
Ihnen zu helfen, ist nicht nur eine Frage des Geldes, sagt Haunss: „Wenn es zu Protesten kommen sollte, dann bezweifle ich, dass ein neues Entlastungspaket den Protesten den Anlass nehmen würde. Die Gelbwesten haben auch nicht aufgehört, als die Erhöhung der Benzinsteuer wieder zurückgenommen wurde.“ Nachdem Macron ihnen entgegengekommen war, forderten sie eine Anhebung des Mindestlohns.
Ob es zu massenhaften Protesten kommt, hängt vor allem davon ab, ob es eine Organisation schafft, die Unruhen zu orchestrieren. Befürchtet wird, dass die Instrumentalisierung von rechts kommt. Für Haunss ist das vor allem eine Frage des Standorts. Er rechnet damit, dass die Instrumentalisierung „vor allem in den AfD-Hochburgen erfolgreich“ werden könnte.
Eine Sorge, die Aktivist Gärtner teilt. „Vor ein paar Tagen habe ich mit einem Mann gesprochen. In der Analyse der Probleme waren wir uns einig, in der Lösung nicht. Ausländer nehmen uns nicht das Geld weg, es sind die Konzerne – und die Politik protegiert sie auch noch.“ Dieses Narrativ in alle Köpfe zu bekommen, könnte schwierig werden. Doch Gärtner will es versuchen.
Wutwinter wegen Gas-Umlage? Corona-Demos haben gezeigt, wie groß das Eskalationspotenzial ist
Zwei Termine hat er im Kopf. „Am 1. September werden in ca. 200 Städten Anti-Kriegs-Proteste stattfinden. Wir wollen auch in Solingen eine Veranstaltung organisieren.“ Weiter geht es am 1. Oktober. „Dann wird es richtig spannend. Es gibt eine bundesweite Friedensdemonstration in Berlin.“ Kommt es dann zu Gewaltexzessen? „Ich bin mir sicher, dass es ruhig bleibt, zumindest von unserer Seite“, sagt Gärtner. Wissenschaftler Haunss weist darauf hin, dass „die Corona-Proteste gezeigt haben, wie groß auch das Eskalations- und Gewaltpotenzial in Deutschland mittlerweile ist.“
Gärtner, der sich selbst als Sozialist bezeichnet, sagt: „Es heißt immer: Der freie Markt soll entscheiden. Man spricht immer von unternehmerischem Risiko. Das ist aber eine große Lüge: Gewinne werden privatisiert, Verluste aber sozialisiert.“ Hat Uniper, der größte deutsche Gasimporteur, halt Pech gehabt – und damit alle anderen auch. „Kalte Wohnungen werden dafür sorgen, dass noch mehr auf die Straße gehen“, sagt Gärtner. Das klingt wie Hoffnung und Drohung zugleich.