Ukraine-Krieg: „Lanz“-Gast protestiert bei Einschätzung zu Russland-Embargo durch SPD-Landeschef

Der Krieg in der Ukraine überschattet die Corona-Lage – auch im Hamburger Rathaus. „Markus Lanz“ diskutiert zum ersten Mal seit vier Wochen auch über die Pandemie.
Hamburg – „Die Idee eines Blitzkriegsszenarios ist ins Stocken geraten“, konstatiert die Politologin Margarete Klein den Status Quo des Ukraine-Krieges am Dienstagabend (29. März) bei „Markus Lanz“. Gleichzeitig sei eine weiter zunehmende Brutalität in Mariupol zu verzeichnen, die an Grosny im Tschetschenienkrieg oder Aleppo im Syrienkrieg erinnere. Dass Wladimir Putin* in der Ukraine Söldner unterhalte, diene auch dessen Innenpolitik, denn gefallene ausländische Soldaten müsse er dem russischen Volk nicht als Verluste verkaufen, erklärt die Politologin. Ob und mit welcher Heftigkeit im System Putin ein Machtkampf tobe, lasse sich von außen nur schwer beurteilen. „Wir wissen es nicht“, sagt Klein und beschreibt die vielen Repressalien, mit denen die russische Bevölkerung konfrontiert ist.
Die Journalistin Anna Lehmann umreißt, mit welchen Argumenten Putins Anhänger dessen Kurs verteidigen: Russland müsse sich für die Zukunft wappnen und sich gegen den Westen behaupten. Klein bestätigt, dass die Forderung von US-Präsident Joe Biden, Putins Zeit als Präsident Russlands* müsse enden, Wasser auf die Mühlen russischer Propaganda sei, denn deren Anhänger seien schon länger der Meinung, der Westen wolle einen Regime-Wechsel in Russland herbeiführen. Dass Biden Putin als Kriegsverbrecher bezeichnet und der deutsche Kanzler Olaf Scholz* (SPD) nicht, findet Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) nicht problematisch: „Das ist der Stil eines amerikanischen Präsidenten. Und ein deutscher Bundeskanzler ist, wenn er so wie Herr Scholz agiert, ein überlegter, ein analytischer, aber auch ein harter und ein klarer Kanzler.“
Embargo auf russische Rohstoffe? Hamburgs Bürgermeister Tschentscher bei „Markus Lanz“: „Es würde zu erheblichen Einbußen kommen“
Tschentscher teilt im Anschluss die Analyse des Kanzlers, dass sich ein Embargo auf russische Rohstoffe gemessen am jeweiligen Schaden nicht lohne. Mit Blick auf die Energieversorgung in Hamburg sagt er: „Selbstverständlich. Wenn Gas und Kohle fehlen, führt das zu erheblichen Ausfällen an Produktion. Deswegen ist der Schaden eines Embargos für den Westen in dieser Situation sehr viel größer als für Russland.“ Es sei die richtige Strategie, sich unabhängig von Russland zu machen, inzwischen gebe es auch Pläne für mobile LLG-Flüssiggas-Terminals, die statt Jahren binnen Monaten errichtet werden könnten.
Lehmann widerspricht Tschentscher. Sie kenne keine Studie, die sage, dass ein Embargo für den Westen schlimmere Folgen hätte als für Russland. Es entstehe der Eindruck, der Westen denke mehr an seine eigene wirtschaftliche und soziale Sicherheit als an ein schnelles Ende des Ukraine-Krieges*. Tschentscher nennt Lehmann keine Studie, versichert ihr aber: „Wenn wir über Nacht kein russisches Gas mehr bekommen, passiert im ersten Moment wenig. Aber im zweiten Moment wird es zu erheblich Einbußen kommen, zum Beispiel in der Industrie, die auf dieses Gas angewiesen ist.“ Wirtschaftsminister Robert Habeck* (Grüne) habe deshalb seine Unterstützung, im Nahen und Mittleren Osten um neue Lieferanten zu werben.
Markus Lanz kontert Tschentschers Rohstoff-Argumente: „Das wollen wir uns doch hier nicht erzählen“
Tschentscher verstehe zwar die emotionalen Appelle des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj*, der ein Rohstoff-Embargo fordert. „Aber das heißt ja, dass wir trotzdem vernünftig überlegen müssen, was jetzt in so einer Situation hilft“, bleibt Hamburgs Bürgermeister beharrlich. Das Sanktionsregime gegen Russland sei einschneidend, die Energieimporte kurzfristig einzustellen sei nicht überzeugend, weil Russland sich davon nicht werde beeindrucken lassen. Talkmaster Markus Lanz verliert daraufhin die Fassung: Er mag kaum glauben, „dass die das nicht beeindruckt. Das wollen wir uns doch hier nicht gegenseitig erzählen.“ Auch Klein mahnt, man müsse Russland schwächen, wo es möglich sei, denn ein Erfolg Russlands in der Ukraine führe zwangsläufig zu einer „weiteren Militarisierung der russischen Außenpolitik“.
„Markus Lanz“ - das waren seine Gäste am 29. März:
- Peter Tschentscher (SPD*) – Politiker
- Margarete Klein – Politologin
- Hendrik Streeck – Virologe
- Anna Lehmann – Journalistin
Angesichts der vielfachen Krisen stellt Gastgeber Lanz Tschentscher die Frage, ob diesen aktuell der Krieg in der Ukraine oder die Corona-Pandemie* mehr beschäftige. Hamburgs Bürgermeister antwortet unumwunden, dass ihn die Auswirkungen des Krieges im Osten Europas „sehr viel stärker“ beschäftigen. Flüchtlinge seien unterzubringen und Entscheidungen zu treffen, „von denen wir uns vor einem halben Jahr überhaupt nicht gedacht haben, dass wir uns darüber Gedanken machen müssen“. Dennoch dürfe die Corona-Lage nicht aus den Augen verloren werden, die Belegung in den Hamburger Krankenhäusern sei aktuell „alles andere als entspannt“.
„Ich hoffe, dass wir die nächsten Wochen wenigstens die Maskenpflicht aufrechterhalten können“, sagt Tschentscher mit Blick auf die fallenden Schutzmaßnahmen. Moderator Lanz kann das kaum glauben: „Ist das nicht ein wahnsinniger Satz? Einfach mal so gelassen ausgesprochen.“ Am Mittwoch werde die Hamburger Bürgerschaft darüber abstimmen, erklärt Tschentscher und fügt an: „Sie ist sehr entschlossen, jedenfalls was die Mehrheitsfraktionen angeht.“ Bei Atemschutzmasken handele es sich um eine milde Maßnahme für die in Hamburg ab Mittwoch Rechtssicherheit gelte. Der Virologe Hendrik Streeck stimmt zwar zu, dass Masken schützen und Infektionsketten durchbrechen können, wünscht sich aber eine Lösung, die auf die Eigenverantwortung der Menschen setzt: „Eine Aufhebung einer Maskenpflicht ist nicht der Übergang in ein Maskenverbot.“
Corona-Debatte bei „Markus Lanz“ - Virologe Streeck fordert längeren Genesenenstatus und hinterfragt Kontaktnachverfolgung
Bei den Meinungsverschiedenheiten zwischen Länderchefs und der Regierung nach der letzten Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) sei es in Teilen „auch um das Verfahren, nicht das Ergebnis“ gegangen, beschwichtigt Tschentscher weiter. Allerdings schränkt er ein: „Das Gesetz hätte besser ausfallen können. Es ist etwas umständlich, die Basisschutzmaßnahmen fortzuführen.“ Streeck schränkt ein, dass das Gesetz als Übergangslösung zu verstehen sei, Ende September solle es noch einmal novelliert werden. Spätestens dann hoffe er auf eine Vereinheitlichung des Genesenenstatus, der im europäischen Ausland „sehr viel länger“ gelte als in Deutschland. Am liebsten wäre ihm, „einen Schritt weiterzugehen“ und den Nachweis von Antikörpern im Blut als Schutz anzuerkennen.
Streeck geht auf Mängel der Corona-Politik ein, etwa, dass notwendige Krankenhaus-Daten nach wie vor nicht erfasst würden, um aus der Auslastung der Betten die richtigen Schlüsse ziehen zu können: „Da müssen wir ja genau sagen: Wo sind unsere Grenzwerte von zu vielen Covid-19-Belegungen, die an Corona im Krankenhaus liegen. Das sehe ich bisher noch nicht, für deutschlandweit und auch nicht für einzelne Bundesländer.“ Für den Sommer sei zwar ohnehin eine Entspannung der Lage zu erwarten, weil jedoch mit Blick auf Herbst und Winter von einem starken Infektionsgeschehen auszugehen sei, müsse ein Gesetz vorliegen, das greifen könne sowie eine bessere Datenlage herrschen. Ob die Kontaktnachverfolgung der Gesundheitsämter ein geeignetes Mittel bleibe, sei laut Streeck derzeit nicht klar: „Das muss in meinen Augen jetzt evaluiert werden.“
Virologe Hendrik Streeck bei „Markus Lanz“ über Corona-Maßnahmen: „Müssen vieles entschlacken, was sich eingebürgert hat“
Die FDP* habe sich einen Freedom Day „in den Kopf gesetzt“*, sagt Tschentscher und berichtet von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), der lange verhandelt habe, um den Bundesländern einen Weg zu ermöglichen, die Schutzmaßnahmen weiterzuführen. Der gewählte Weg sei „nicht besonders elegant“, auch, dass es keine objektiven Kriterien für eine „konkrete Überlastung“ gebe, kritisiere Streeck zurecht. Letzterer legt nach: „2G, 3G, Plexiglasscheiben – ich glaube, es ist wirklich an der Zeit, diesen Sommer zu nutzen, dass wir uns trennen von diesem kurzfristigen Handeln und langfristig schauen: Welche Maßnahmen haben eigentlich Wirkung gezeigt?“
Wirkung zeige vor allem die Impfung und das Tragen von Masken, führt Streeck aus und fordert: „Dass wir darauf basierend konkretisieren und entschlacken und vieles von dem über Bord werfen, was sich eingebürgert hat. Damit wir auch weiter die nächsten Jahre mit diesem Virus umgehen können. Weil es wird ja nicht weggehen.“ Der Virologe ruft dazu auf, Normalität zu wagen, in der Eigenverantwortung für die persönliche Gesundheitsvorsorge im Vordergrund stehe. Diese Eigenverantwortung wünscht er sich auch bei einer möglichen vierten Impfung, hierzu solle jedoch zunächst die Evaluierung der Ständigen Impfkommission abgewartet werden. Zähneknirschend konstatiert Talkmaster Lanz zum Abschluss der Sendung die mangelhafte politische Kommunikation in der Corona-Pandemie: „Das bekommen wir auch in Jahr drei dieser Pandemie nicht hin.“
„Markus Lanz“ - Das Fazit der Sendung
„Markus Lanz“ ist am Dienstagabend thematisch zweigeteilt. In der ersten Hälfte der Sendung widmet sich die Runde um die Politologin Margarete Klein und die Journalistin Anna Lehmann dem 34. Tag des Ukraine-Krieges. Auch Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) mischt sich in die Diskussion ein und verteidigt wenig überraschend den Kurs der Bundesregierung. Im zweiten Teil der Sendung greift der Virologe Hendrik Streeck ins Geschehen ein und spricht sich im Namen der Eigenverantwortung für das Ende oder die Evaluierung der meisten Corona-Maßnahmen aus. (Hermann Racke)