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„Es ist besser zu fliehen, aber wir bleiben“: Eine Ukrainerin berichtet

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Von: Astrid Theil

Ukraine-Krieg
Ein ukrainischer Soldat und ein Milizionär helfen einer fliehenden Familie bei der Überquerung des Flusses Irpin in den Außenbezirken von Kiew, Ukraine. © Emilio Morenatti/AP/dpa

Das Leid in der Ukraine nimmt mit jedem Tag des Krieges zu. Das Unvorstellbare wird für viele zum Alltag. Eine Ukrainerin berichtet.

Kiew/Netischyn – Seit zwölf Tagen tobt in der Ukraine ein Krieg*. Dieser Krieg wird mit Worten und mit Waffen geführt. Das Ergebnis sind Tod, Zerstörung, Flucht, Angst und Ungewissheit. Mariia Shuvalova, eine 28-jährige Wissenschaftlerin aus Kiew*, hat ihre Erlebnisse seit dem Angriff russischer Truppen auf die Ukraine mit unserer Redaktion geteilt.

Mariia arbeitet an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie und übersetzt nebenher Filme vom Englischen ins Ukrainische. Das tat sie auch am Tag vor dem Großangriff russischer Truppen auf die Ukraine. Sie übersetzte einen Bollywood Film aus Indien ins Ukrainische. Einen Krieg mit Russland konnte sie sich am 23. Februar trotz der Truppenzusammenziehung an der Grenze auf keinen Fall vorstellen. Und dennoch wachte sie, wie viele Menschen in der Ukraine, einen Tag später gegen fünf Uhr morgens mit dem Geräusch von Explosionen auf.

Ukraine-Krieg: Flucht aus Kiew – Scham, Angst und russische Panzer

Mit ihrem Mann lebt sie in einem Haus in der Nähe des Flughafens Kiew-Boryspil. Aus Angst, dass die Fenster des Hauses durch nahe Explosionen zersplittern könnten, fixierte sie das Glas mit Klebeband. Irgendetwas musste sie tun, sagt sie. Sowohl Essen als auch Schlafen schienen unmöglich. Den ganzen Tag von der surrealen Geräuschkulisse naher Explosionen und dem Gefühl von Übelkeit begleitet, entschloss sie sich schließlich, mit ihrem Mann am Abend aus Kiew zu fliehen*. Denn das Haus, in dem sie wohnen, hat keinen Keller. Gegen 20 Uhr saßen sie im Auto, das sie wie in Trance mit den notwendigsten Dingen bepackt hatten. Zu dem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, wohin genau sie fahren sollen.

Ein ukrainischer Soldat trägt ein Baby und hilft einer fliehenden Familie bei der Überquerung des Flusses Irpin in den Außenbezirken von Kiew.
Ein ukrainischer Soldat trägt ein Baby und hilft einer fliehenden Familie bei der Überquerung des Flusses Irpin in den Außenbezirken von Kiew. Russische Truppen marschierten am 24. Februar in die Ukraine ein. © Emilio Morenatti/AP/dpa

Mariia schrieb den ganzen Tag über Nachrichten – an Verwandte, Freunde, Bekannte. Am Abend zitterten ihre Hände so stark, dass sie kaum mehr tippen konnte. Sie schämte sich dafür, ihre Heimatstadt zu verlassen. Ihr Ziel war eine Kleinstadt, 300 Kilometer von Kiew entfernt. Dort kommen sie im Oblast Chmelnyzkyj in der Nähe der Stadt Netischyn bei Verwandten unter. Sie traut sich nicht, den genauen Ort zu nennen – die ukrainische Regierung empfiehlt, keine Aufenthaltsorte über das Internet preiszugeben. Auf dem Weg dorthin zählte Mariia vierzig Panzer. Alle fuhren sie in Richtung Kiew. Sie beginnt viel in diesen Tagen zu zählen: Explosionen, Hubschrauber und die Anzahl verbliebener Nudelpackungen*.

Mariia Shuvalova

Mariia Shuvalova ist 28 Jahre alt und promoviert an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie zum Thema zeitgenössische ukrainische und israelische Kurzprosa. Als Dozentin gibt sie auch Kurse an der Universität. Nebenbei übersetzte sie englischsprachige Filme ins Ukrainische. Sie betreibt außerdem die NGO „New Ukrainian Academic Community“.

Russische Angriffe in der Ukraine: App-Warnung, Sirenen und Gedanken an das Atomkraftwerk

Das Haus, in dem sie nun untergekommen sind, nennt sie einen sicheren Ort, denn es hat einen gut ausgebauten Keller. „Ich glaube, dass wenn eine Rakete das Haus treffen sollte, würden wir überleben“, sagt sie grübelnd. Am zweiten bis neunten Kriegstag hörte sie stündlich Explosionen. Die Stadt, in der sie untergekommen sind, ist zwar nicht besonders groß, allerdings befinden sich dort zwei strategische Militärobjekte. „In der Stadt ist viel Militär, die ukrainische Armee schützt auch den Luftraum. Truppen aus Russland* versuchen immer wieder anzugreifen, aber die ukrainische Armee nutzt Flugabwehrmittel“. Vielleicht rühren daher die Explosionen, die sie hört – sie weiß es selbst nicht genau. Es ist genau dieses Gefühl des Mangels an Überblick, das besonders quält.

Am zehnten Kriegstag des Ukraine-Konflikts herrschte plötzlich Stille. Nur zwei Explosionen seien zu hören gewesen. Eine App auf ihrem Handy zeigt ihr an, wann Gefahr durch Luftangriffe besteht. Auch Sirenen seien am zweiten Kriegstag installiert worden. „Ab und zu funktioniert die App nicht, aber dafür haben wir ja die Sirenen. Sie sind nicht sonderlich laut, aber wenn man aufmerksam ist, kann man sie hören“. Manchmal meint sie, Sirenen zu hören, obwohl es keinen Alarm gibt. Sie macht sich große Sorgen wegen des Atomkraftwerks in der Nähe von Netischyn. Sollte es beschossen oder beschädigt werden, wäre das eine Katastrophe, die schlimmer sein könnte als die in Tschernobyl.

Mariia Shuvalova aus Kiew
Mariia Shuvalova aus Kiew © privat

Hoffnungen und Ängste: „Es ist definitiv besser, zu fliehen. Aber wir bleiben.“

„Jeder Tag des Krieges war bisher unterschiedlich“, sagt Mariia am Telefon. „Erstmal war es schwer zu begreifen, dass der Krieg tatsächlich ausgebrochen ist. Dann wollte ich unbedingt verbreiten, was in der Ukraine geschieht.“ Viele Verletzte habe es in der Kleinstadt in den ersten Tagen nicht gegeben, also konzentrierte sie sich darauf, Informationen über den Krieg zu teilen. In den darauffolgenden Tagen erreichten sie allerdings immer mehr Hilfsanfragen von Familienangehörigen, Freunden und Bekannten. Erst dann habe sie wirklich begriffen, dass der Krieg auch eine humanitäre Katastrophe für die Ukraine bedeutet. Ihr Mann und sie arbeiten den ganzen Tag und versuchen Geld zu verdienen, um damit Angehörige und die Armee unterstützen zu können. Sie versuchen, ein Netzwerk für Hilfe aufzubauen und spenden einen Großteil ihrer Sachen an die Ukrainische Nationalgarde.

Nach Tagen der Arbeit stellt sich jedoch zunehmend Erschöpfung ein. Und vor allem Hoffnungslosigkeit. „Wir haben keine Wochenpläne. Wir machen alles von Tag zu Tag. Im Grunde genommen sind wir einfach nur froh, wenn wir einen weiteren Tag überstanden haben.“ Mariia und ihr Mann wollen die Ukraine nicht verlassen. Sie wollen auch zurück in ihre Heimatstadt Kiew. Das sei gerade allerdings zu gefährlich. „Es ist definitiv besser, zu fliehen. Aber wir bleiben. Unsere Freunde und Familien kämpfen und wir müssen ihnen den Rücken frei halten, Geld verdienen, um sie zu versorgen“. Gerade versuchen sie schusssichere Westen zu organisieren und ihren Familien, Freunden und Nachbarn so gut es geht zu helfen. Das sei nun ihre Arbeit.

Wir machen keine Wochenpläne. Wir machen alles von Tag zu Tag. Im Grunde genommen sind wir einfach nur froh, wenn wir einen weiteren Tag überstanden haben.

Mariia Shuvalova über den Krieg in der Ukraine

Das Haus, in dem sie wohnen, sei mittlerweile zu einer Art Lager geworden. Viele Verwandte und Freunde würden dort schlafen und regelmäßig zur ukrainisch-polnischen Grenze fahren, um Hilfsgüter ins Landesinnere zu bringen. Ihr Bruder, der Bruder ihres Mannes und Freunde kämpfen in der Armee in Kiew. „Auch eine Freundin von mir kämpft in der Armee in Kiew“, sagt Mariia stolz. Sie selbst hatte sehr auf militärische Hilfe durch die NATO* gehofft. Besonders, nachdem es zu Kämpfen um das größte Atomkraftwerk Europas kam: Saporischschja. Das würde doch alle betreffen, sagt sie. Mittlerweile sei sie sehr enttäuscht von der NATO und würde nichts mehr erwarten. Die Hilfe, die die Ukraine aber durch einige Staaten der EU* erhalte, gebe ihr Hoffnung.  

Russische Propaganda „Sie haben mir das Herz gebrochen. Sie glauben mir nicht.“

Der Krieg findet allerdings nicht nur mit Waffen in der Ukraine statt, sondern auch mit Worten in Russland. Seit Beginn der russischen Invasion wurde die Propaganda des Kremls*, die in den vergangenen Jahren perfektioniert wurde, nochmal intensiviert. Auch in den angrenzenden Ländern führen russische Medien seit Jahren einen Informationskrieg, der Gesellschaften spalten soll. Die Verbreitung von Falschinformationen zerreißt auch Familien. Mariia berichtet von ihren Familienangehörigen, die in Russland leben. Sie hat ihnen am ersten Kriegstag geschrieben und berichtet, was in der Ukraine geschieht. „Sie haben mir das Herz gebrochen. Sie glauben mir nicht“, sagt Mariia fassungslos. Ihre Verwandten, die alle älter als sechzig Jahre alt sind, glauben dem russischen Staatsfernsehen mehr als ihr.

Auch Freunden, die in Russland leben, hat sie geschrieben. Zwar haben sie ihr Glauben geschenkt, aber Hilfe hat sie von ihnen nicht erhalten. Eine Freundin von ihr teilte einige Informationen über den Krieg in der Ukraine auf Instagram. Das Wort „Krieg“ hat sie dabei jedoch nicht verwendet. 15 Jahre Gefängnis drohen mittlerweile den Personen, die das Wort „Krieg“ in den Medien im Zusammenhang der Geschehnisse in der Ukraine verwenden. Die Eltern dieser Freundin leben selbst in der Ukraine. Die meisten ihrer russischen Bekannten würden versuchen, sie davon zu überzeugen, dass die Ukrainer „die Bösen“ seien.

Mir ist etwas aufgefallen: Ich sage meinen Verwandten und Freunden jetzt viel öfter, dass ich sie liebe.

Mariia Shuvalova über die letzten Kriegstage

„Sie versuchen Petitionen zu schreiben, um Unternehmen von Sanktionen abzuhalten. Ich habe ihnen gesagt, dass sie besser eine Petition an die russische Regierung schreiben sollten.“ Sie schreiben ihr, dass das Leben in Russland nun sehr hart* werden würde: „Das ist unglaublich. Sie versuchen mir zu beweisen, dass sie die Opfer sind“. Selbst am zwölften Kriegstag habe keiner ihrer Kontakte in Russland wirklich verstanden, was in der Ukraine passiert. Mittlerweile hat sie den Kontakt abgebrochen, weil er zu schmerzhaft ist.

Ukraine-Krieg: An den Konflikt „gewöhnen“?

In den vergangenen zwei Tagen, dem elften und zwölften Kriegstag, habe sich etwas verändert. „Es klingt verrückt. Selbst für mich, aber es scheint, als würden wir uns langsam an den Krieg gewöhnen“, sagt Mariia. Sie kann wieder essen und rennt bei Alarm routiniert in den Keller des Hauses. Sie beginne zu verstehen, dass dieser Zustand auf unbestimmte Zeit anhält. „Mir ist etwas aufgefallen: Ich sage meinen Verwandten und Freunden jetzt viel öfter, dass ich sie liebe“, flüstert Mariia fast ins Telefon. Warum sie das tut, formuliert sie nicht aus. Sie scheint es aber zu wissen. Manchmal denkt sie an den Bollywood Film, den sie am Tag vor Beginn der Krieges übersetzt hat. Es kommt ihr vor, als liege ein Leben dazwischen. (Astrid Theil) *fr.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

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